Dienstag, 22. Januar 2013

Die Antinomie des Maßes

Die Antinomie des Maßes


Wenn eine quantitative Veränderung stattfindet, so erscheint dies zunächst als etwas ganz Unbefangenes, allein es steckt noch etwas anderes dahinter, und diese scheinbar unbefangene Veränderung des Quantitativen ist gleichsam eine List, wodurch das Qualitative ergriffen wird.


Die hierin liegende Antinomie des Maßes haben bereits die Griechen unter mancherlei Einkleidungen veranschaulicht. So z. B. in der Frage, ob ein Weizenkorn einen Haufen Weizen, oder in jener anderen, ob das Ausreißen eines Haares aus dem Schweif eines Pferdes einen Kahlschweif mache?


Wenn man im Hinblick auf die Natur der Quantität als gleichgültiger und äußerlicher Bestimmtheit des Seins vorerst geneigt sein wird , jene Fragen verneinend zu beantworten, so wird man doch demnächst zugeben müssen,


daß dieses gleichgültige Vermehren und Vermindern auch seine Grenze hat und daß hierbei endlich ein Punkt erreicht wird , wo durch das fortgesetzte Hinzufügen immer nur eines Weizenkorns ein Haufen Weizen und durch das fortgesetzte Ausziehen immer nur eines Haares ein Kahlschweif entsteht.


Ebenso wie mit diesen Beispielen verhält es sich mit jener Erzählung v o n einem Bauer, welcher die Last seines munter einherschreitenden Esels so lange um ein Lot nach dem anderen vermehrte, bis daß derselbe endlich unter der unerträglich gewordenen Last zusammensank.


Man würde sehr Unrecht tun, wenn man dergleichen bloß für ein müßiges Schulgeschwätz erklären wollte, da es sich dabei in der Tat um Gedanken handelt, mit denen vertraut zu sein auch in praktischer und näher in sittlicher Beziehung von großer Wichtigkeit ist.


So findet z. B. in Beziehung auf die Ausgaben, welche wir machen, zunächst ein gewisser Spielraum statt, innerhalb dessen es auf ein Mehr und Weniger nicht ankommt;


 wird dann aber nach der einen oder nach der andern Seite hin das durch die jedesmaligen individuellen Verhältnisse bestimmte Maß überschritten, so macht sich die qualitative Natur des Maßes ( in derselben Weise wie bei dem vorher erwähnten Beispiel der verschiedenen Temperatur des Wassers ) geltend,


und dasjenige, was soeben noch als gute Wirtschaft zu betrachten war, wird zu Geiz oder zu Verschwendung.


- Dasselbe findet dann auch seine Anwendung auf die Politik , und zwar in der Art , daß die Verfassung eines Staates ebensowohl als unabhängig als auch als abhängig von der Größe seines Gebiets, von der Zahl seiner Bewohner und anderen solchen quantitativen Bestimmungen angesehen werden muß.


Betrachten wir z. B. einen Staat mit einem Gebiet von tausend Quadratmeilen und einer Bevölkerung von vier Millionen Einwohnern , so wird man zunächst unbedenklich zuzugeben haben,


daß ein paar Quadratmeilen Gebiet oder ein paar Tausend Einwohner mehr oder weniger auf die Verfassung eines solchen Staates keinen wesentlichen Einfluß haben können.


Dahingegen ist dann aber auch ebensowenig z u verkennen, daß in der fortgesetzten Vergrößerung oder Verkleinerung eines Staats endlich ein Punkt eintritt, wo,


abgesehen von allen anderen Umständen, schon um dieser quantitativen Veränderung willen auch das Qualitative der Verfassung nicht mehr  unverändert bleiben kann .


Die Verfassung eines kleinen Schweizer Kantons paßt nicht für ein großes Reich, und ebenso unpassend
war die Verfassung der römischen Republik in ihrer Übertragung auf kleine deutsche Reichsstädte.


Quelle:

Hegel : Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse
http://texte.phil-splitter.com/html/mass.html


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