Briefe aus den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern 2
M. an R.
Köln, im Mai 1843
Ihr Brief, mein teurer Freund, ist eine gute Elegie, ein atemversetzender
Grabgesang; aber politisch ist er ganz und gar nicht. Kein Volk verzweifelt,
und sollt' es auch lange Zeit nur aus Dummheit hoffen, so erfüllt es sich doch
nach vielen Jahren einmal aus plötzlicher Klugheit alle seine frommen
Wünsche.
' Doch, Sie haben mich angesteckt, Ihr Thema ist noch nicht erschöpft, ich
will das Finale hinzufügen, und wenn alles zu Ende ist, dann reichen Sie mir
die Hand, damit wir von vorne wieder anfangen. Laßt die Toten ihre Toten
begraben und beklagen. Dagegen ist es beneidenswert, die ersten zu sein, die
lebendig ins neue Leben eingehen; dies soll unser Los sein.
Es ist wahr, die alte Welt gehört dem Philister. Aber wir dürfen ihn nicht
wie einen Popanz behandeln, von dem man sich ängstlich wegwendet. Wir
müssen ihn vielmehr genau ins Auge fassen. Es lohnt sich, diesen Herrn der
Welt zu studieren.
Herr der Welt ist er freilich nur, indem er sie, wie die Würmer einen Leichnam,
mit seiner Gesellschaft ausfüllt. Die Gesellschaft dieser Herren braucht
darum nichts weiter als eine Anzahl Sklaven, und die Eigentümer der Sklaven
brauchen nicht frei zu sein. Wenn sie wegen ihres Eigentums an Land und
Leuten Herren im eminenten Sinne genannt werden, sind sie darum nicht
weniger Philister als ihre Leute.
Menschen, das wären geistige Wesen, freie Männer, Republikaner. Beides
wollen die Spießbürger nicht sein. Was bleibt ihnen übrig, zu sein und zu
wollen?
Was sie wollen, leben und sich fortpflanzen (und weiter, sagt Goethe,
bringt es doch keiner), das will auch das Tier, höchstens würde ein deutscher
Politiker noch hinzuzusetzen haben, der Mensch wisse aber, daß er es wolle,
und der Deutsche sei so besonnen, nichts weiter zu wollen.
Das Selbstgefühl des Menschen, die Freiheit, wäre in der Brust dieser
Menschen erst wieder zu erwecken. Nur dies Gefühl, welches mit den Griechen
aus der Welt und mit dem Christentum in den blauen Dunst des Himmels
verschwindet, kann aus der Gesellschaft wieder eine Gemeinschaft der Menschen
für ihre höchsten Zwecke, einen demokratischen Staat machen.
Die Menschen dagegen, welche sich nicht als Menschen fühlen, wachsen
ihren Herren zu, wie eine Zucht von Sklaven oder Pferden. Die angestammten
Herren sind der Zweck dieser ganzen Gesellschaft. Diese Welt gehört ihnen.
Sie nehmen sie, wie sie ist und sich fühlt. Sie nehmen sich selbst, wie sie sich
vorfinden, und stellen sich hin, wo ihre Füße gewachsen sind, auf die Nacken
dieser politischen Tiere, die keine andere Bestimmung kennen, als ihnen
„Untertan, hold und gewärtig" zu sein. '
Die Philisterwelt ist die politische Tierwelt, und wenn wir ihre Existenz anerkennen
müssen, so bleibt uns nichts übrig, als dem status quo einfacherweise
recht zu geben. Barbarische Jahrhunderte haben ihn erzeugt und ausgebildet,
und nun steht er da als ein konsequentes System, dessen Prinzip die entmenschte
Welt ist. Die vollkommenste Philisterwelt, unser Deutschland, mußte also
natürlich weit hinter der französischen Revolution, die den Menschen wieder
herstellte, zurückbleiben; und der deutsche Aristoteles, der seine Politik aus
unsern Zuständen abnehmen wollte, würde an ihre Spitze schreiben: „Der
Mensch ist ein geselliges, jedoch völlig unpolitisches Tier", den Staat aber
könnte er nicht richtiger erklären, als dies Herr Zöpfl, der Verfasser des „Konstitutionellen
Staatsrechts in Deutschland", bereits getan hat.
Er ist nach ihm
ein „Verein vonFamilien", welcher, fahren wir fort, einer allerhöchstenFamilie,
die man Dynastie nennt, erb- und eigentümlich zugehört. Je fruchtbarer die
Familien sich zeigen, desto glücklicher die Leute, desto größer der Staat, desto
mächtiger die Dynastie, weswegen denn auch in dem normaldespotischenPreußen
auf den siebenten Jungen eine Prämie von fünfzig Reichstalern gesetzt ist.
Die Deutschen sind so besonnene Realisten, daß alle ihre Wünsche und
ihre hochfliegendsten Gedanken nicht über das kahle Leben hinausreichen.
Und diese Wirklichkeit, nichts weiter, akzeptieren die, welche sie beherrschen.
Auch diese Leute sind Realisten, sie sind sehr weit von allem Denken
und von aller menschlichen Größe entfernt, gewöhnliche Offiziere und Landjunker,
aber sie irren sich nicht, sie haben recht, sie, so wie sie sind, reichen
vollkommen aus, dieses Tierreich zu benutzen und zu beherrschen, denn
Herrschaft und Benutzung ist ein Begriff, hier wie überall. Und wenn sie
sich huldigen lassen und über die wimmelnden Köpfe dieser hirnlosen Wesen
hinsehen, was liegt ihnen näher als der Gedanke Napoleons an der Beresina?
Man sagt ihm nach, er habe hinuritergewiesen auf das Gewimmel d er
Ertrinkenden und seinem Begleiter zugerufen: Voyez ces crapaads!1 Diese
Nachrede ist wahrscheinlich eine Lüge, aber wahr ist sie nichtsdestoweniger.
Der einzige Gedanke des Despotismus ist die Menschenverachtung, der entmenschte
Mensch, und dieser Gedanke hat vor vielen andern den Vorzug,
zugleich Tatsache zu sein. Der Despot sieht die Menschen immer entwürdigt.
Sie ersaufen vor seinen Augen und für ihn im Schlamm des gemeinen Lebens,
aus dem sie auch, gleich den Fröschen, immer wieder hervorgehen. Drängt
sich nun selbst Menschen, die großer Zwecke fähig waren, wie Napoleon vor
seiner Dynastietollheit, diese Ansicht auf, wie sollte ein ganz gewöhnlicher
König in einer solchen Realität Idealist sein?
Das Prinzip der Monarchie überhaupt ist der verachtete, der verächtliche,
der entmenschte Mensch; und Montesquieu hat sehr unrecht, die Ehre dafür
auszugeben. Er hilft sich mit der Unterscheidung von Monarchie, Despotie
und Tyrannei. Aber das sind Namen eines Begriffs, höchstens eine Sittenverschiedenheit
bei demselben Prinzip. Wo das monarchische Prinzip in der
Majorität ist, da sind die Menschen in der Minorität, wo es nicht bezweifelt
wird, da gibt es keine Menschen. Warum soll nun ein Mann wie der König
von Preußen, der keine Proben davon hat, daß er problematisch wäre, nicht
lediglich seiner Laune folgen? Und nun er es tut, was kommt dabei heraus?
Widersprechende Absichten? Gut, so wird nichts daraus. Ohnmächtige
Tendenzen? Sie sind immer noch die einzige politische Wirklichkeit. Blamagen
und Verlegenheiten? Es gibt nur eine Blamage und nur eine Verlegenheit,
das Heruntersteigen vom Thron. Solange die Laune an ihrem Platze
bleibt, hat sie recht. Sie mag dort so unbeständig, so kopflos, so verächtlich
sein, wie sie will; sie ist immer noch gut genug, ein Volk zu regieren, welches
nie ein anderes Gesetz gekannt hat als die Willkür seiner Könige. Ich sage
nicht, ein kopfloses System und der Verlust der Achtung im Innern und
nach außen werde ohne Folgen bleiben, ich nehme die Assekuranz des
Narrenschiffes nicht auf mich; aber ich behaupte: Der König von Preußen
wird so lange ein Mann seiner Zeit sein, als die verkehrte Welt die wirkliche
ist.
Sie wissen, ich beschäftige mich viel mit diesem Manne. Schon damals,
als er nur noch das „Berliner politische Wochenblatt" zu seinem Organe
hatte, erkannte ich seinen Wert und seine Bestimmung. Er rechtfertigte schon
bei der Huldigung in Königsberg meine Vermutung, daß nun die Frage rein
persönlich werden würde. Er erklärte sein Herz und sein Gemüt ' für das
künftige Staatsgrundgesetz der Domäne Preußen, seines Staates, und in der
Tat, der König ist in Preußen das System. Er ist die einzige politische Person.
Seine Persönlichkeit bestimmt das System so oder so. Was er tut oder was
man ihn tun läßt, was er denkt oder was man ihm in den Mund legt, das ist es,
was in Preußen der Staat denkt oder tut. Es ist also wirklich ein Verdienst, daß
der jetzige König dies so unumwunden erklärt hat.
Nur darin irrte man sich eine Zeitlang, daß man es für erheblich hielt,
welche Wünsche und Gedanken der König nun zum Vorschein brächte. Dies
konnte in der Sache nichts ändern, der Philister ist das Material der Monarchie
und der Monarch immer nur der König der Philister; er kann weder sich noch
seine Leute zu freien, wirklichen Menschen machen, wenn beide Teile bleiben,
was sie sind.
Der König von Preußen hat es versucht, mit einer Theorie, die wirklich
sein Vater1 so nicht hatte, das System zu ändern. Das Schicksal dieses Versuches
ist bekannt. Er ist vollkommen gescheitert. Ganz natürlich. Ist man
einmal bei der politischen Tierwelt angelangt, so gibt es keine weitere Reaktion
als bis zu ihr, und kein anderes Vordringen als das Verlassen ihrer Basis
und den Übergang zur Menschenwelt der Demokratie.
Der alte König wollte nichts Extravagantes, er war ein Philister und
machte keinen Anspruch auf Geist. Er wußte, daß der Dienerstaat und sein
Besitz nur der prosaischen, ruhigen Existenz bedurfte. Der junge König war
munterer und aufgeweckter, von der Allmacht des Monarchen, der nur durch
sein Herz und seinen Verstand beschränkt ist, dachte er viel größer. Der alte
verknöcherte Diener- und Sklavenstaat widerte ihn an. Er wollte ihn lebendig
machen und ganz und gar mit seinen Wünschen, Gefühlen und Gedanken
durchdringen; und er konnte das verlangen, er in seinem Staate, wenn es nur
gelingen wollte.
Daher seine liberalen Reden Und Herzensergießungen. Nicht
das tote Gesetz, das volle lebendige Herz des Königs sollte alle seine Untertanen
regieren. Er wollte alle Herzen und Geister für seine Herzenswünsche
und langgenährten Pläne in Bewegung setzen. Eine Bewegung ist erfolgt; aber
die übrigen Herzen schlügen nicht wie das seinige, und die Beherrschten
konnten den Mund nicht auftun, ohne von der Aufhebung der alten Herrschaft
zu reden. Die Idealisten, welche die Unverschämtheit haben, den
Menschen zum Menschen machen zu wollen, ergriffen das Wort, und während
der König altdeutsch phantasierte, meinten sie, neudeutsch philosophieren
zu dürfen.
Allerdings war dies unerhört in Preußen. Einen Augenblick schien
die alte Ordnung der Dinge auf den Kopf gestellt zu sein, ja, die Dinge fingen
an, sich in Menschen zu verwandeln, es gab sogar namhafte Menschen, obgleich
die Namensnennung auf den Landtagen nicht erlaubt ist; aber, die
Diener des alten Despotismus machten diesem undeutschen Treiben bald
ein Ende. Es war nicht schwer, die Wünsche des Königs, der für eine große
Vergangenheit voll Pfaffen, Ritter und Hörige schwärmt, mit den Absichten
der Idealisten, welche lediglich die Folgen der französischen Revolution, also
zuletzt doch immer Republik und eine Ordnung der freien Menschheit statt
der Ordnung der toten Dinge wollen, in fühlbaren Konflikt zu bringen. Als
dieser Konflikt schneidend und unbequem genug geworden und der jähzornige
König hinlänglich aufgeregt war, da traten die Diener zu ihm, die
früher den Gang der Dinge so leicht geleitet hatten, und erklärten: der König
täte nicht wohl, seine Untertanen zu unnützen Reden zu verleiten, sie würden
das Geschlecht der redenden Menschen nicht regieren können. Auch der Herr
aller Hinterrussen1 war über die Bewegung in den Köpfen der Vorderrussen1145-
1 unruhig geworden und verlangte Wiederherstellung des alten ruhigen
Zustandes. Und es erfolgte eine neue Auflage der alten Ächtung aller Wünsche
und Gedanken der Menschen über menschliche Rechte und Pflichten, das
heißt die Rückkehr zu dem alten verknöcherten Dienerstaat, in welchem der
Sklave schweigend dient und der Besitzer des Landes und der Leute lediglich
durch eine wohlgezogene, stillfolgsame Dienerschaft möglichst schweigsam
herrscht. Beide können, was sie wollen, nicht sagen, weder die einen, daß
sie Menschen werden wollen, noch der andere, daß er keine Menschen in
seinem Lande brauchen könne. Schweigen ist daher das einzige Auskunftsmittel.
Muta pecora, prona et ventri oboedientia.a
Dies ist der verunglückte Versuch, den Philisterstaat auf seiner eigenen
Basis aufzuheben; er ist dazu ausgeschlagen, daß er die Notwendigkeit der
Brutalität und die Unmöglichkeit der Humanität für den Despotismus aller
Welt anschaulich gemacht hat. Ein brutales Verhältnis kann nur mit Brutalität
aufrechterhalten werden. Und hier bin ich nun mit unserer gemeinsamen
Aufgabe, den Philister und seinen Staat ins Auge zu fassen, fertig. Sie werden
nicht sagen, ich hielte die Gegenwart zu hoch, und wenn ich dennoch nicht
an ihr verzweifle, so ist es nur ihre eigene verzweifelte Lage, die mich mit Hoffnung
erfüllt. Ich rede gar nicht von der Unfähigkeit der Herren und von der
Indolenz der Diener und Untertanen, die alles gehn lassen, wie es Gott gefällt;
und doch reichte beides zusammen schon hin, um eine Katastrophe
herbeizuführen. Ich mache Sie nur darauf aufmerksam, daß die Feinde des
Philistertums, mit einem Wort alle denkenden und alle leidenden Menschen,
zu einer Verständigung gelangt sind, wozu ihnen früher durchaus die Mittel
fehlten, und daß selbst das passive Fortpflanzungssystem der alten Untertanen
jeden Tag Rekruten für den Dienst der neuen Menschheit wirbt. Das
System des Erwerbs und Handels, des Besitzes und der Ausbeutung der
Menschen führt aber noch viel schneller als die Vermehrung der Bevölkerung
zu einem Bruch innerhalb der jetzigen Gesellschaft, den das alte System nicht
zu heilen vermag, weil es überhaupt nicht heilt und schafft, sondern nur existiert
und genießt. Die Existenz der leidenden Menschheit, die denkt, und
der denkenden Menschheit, die unterdrückt wird, muß aber notwendig für
die passive und gedankenlos genießende Tierwelt der Philisterei ungenießbar
und unverdaulich werden.
Von unserer Seite muß die alte Welt vollkommen ans Tageslicht gezogen
und die neue positiv ausgebildet werden. Je länger die Ereignisse der denkenden
Menschheit Zeit lassen, sich zu besinnen, und der leidenden, sich zu
sammeln, um so vollendeter wird das Produkt in die Welt treten, welches die
Gegenwart in ihrem Schöße trägt.
Quelle :
Hegel : Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse
http://www.hegel.de/werke_frei/startfree.html
http://hegel.logik.3.abcphil.de/html/drittes_kapitel-_die_absolute_idee.html
Die Wissenschaft der Logik Zweites Kapitel: B. Die erscheinende und die an sich seiende Welt
http://hegel.logik.2.abcphil.de/html/b__die_erscheinende_und_die_an_sich_seiende_welt.html
Lenin : Conspectus of Hegel’s book The Science of Logic
http://www.marxists.org/archive/lenin/works/1914/cons-logic/index.htm
http://www.praxisphilosophie.de/hegel.htm
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